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Der alte Mann in der hässlichen Welt

„Wer keinen Sinn im Leben sieht,
ist nicht nur unglücklich, sondern kaum lebensfähig.“ (Albert Einstein)

(2010)
Da war sie schon wieder: Die Sonne.
Mit unsicherem, wackeligem Schritt war er aus seiner Haustür getreten.
Sie schien, sie blendete und außerdem windete es.
Verstört hielten seine knochigen Hände die Krempe seines Hutes fest und er begann seinen morgendlichen Gang durch die Stadt.

Für einen kurzen Moment blickte er zurück auf die Fassade des grauen, mehrstöckigen Hauses, aus dem er getreten war. Es war umringt von restaurierten Gebäuden, die nun als Familienhäuser dienten.
Und er hasste es. Es war grau. Hässlich. Eingepfercht zwischen den anderen Häusern. Ohne Luft, Platz, Raum. Kaum auszuhalten.

Sein Blick wanderte zurück, auf seine Schuhe und den kalten Bürgersteig. Er setzte seinen Spaziergang mit geducktem Kopfe fort, seinen Gehstock immer bereit zu nutzen, wenn ihn für einen Augenblick die Kraft verlassen sollte.
Jeden Samstag hielt er dasselbe Ritual ab: Er ging aus dem Haus, ignorierte die lauten Nachbarskinder, die beim Spielen seinen Namen riefen, den Bettler, der seit Jahrzehnten an der Ecke zu seinem Haus saß und ihn anbettelte, den Tabakladenbesitzer am Hafen, dessen breites Lächeln er nicht ertragen konnte und die fröhlichen Stimmen, die aus allen Ecken auf dem vollgestopften Samstagsmarkt auf ihn eindrangen.
Er wollte nur aus dem Haus. Er wollte nicht gerufen werden, keinen Bettler ertragen. Er wollte seinen Tabak kaufen, ihn auf der Bank am Hafen rauchen und Lebensmittel für die nächste Woche besorgen.

Mehr wollte er nicht, aber alles belästigte ihn.

Mit einem finsteren Blick betrat er den Tabakladen.
-„Guten Morgen, Sir! Wie geht es Ihnen heute?“
Wann hörte dieser Scharlatan endlich auf damit?
Die ausgemergelten Finger des alten Mannes zeigten auf die Stelle, an der sich der Marlboro-Tabak befand.
-„Drei Päckchen, bitte.“
Irritiert – als ob es die erste Begegnung zwischen ihnen wäre! – griff der Ladenbesitzer zu und kassierte, während er den Greis nicht aus den Augen ließ.
Doch was gab es dort schon noch zu sehen?
Sein Blick folgte dem verbitterten Mann, der wortlos den Tabak griff, sich umdrehte und grummelnd, zitternd, vermeintlich stolz auf seinen Gehstock gestützt, die Schwelle des Ladens überschritt.

Wozu machte er sich seit 22 Jahren die Mühe, freundlich zu dem zu Alten sein?
Wer die Welt grau erblickte, erfasste sie nun einmal nicht anders. Auch nicht an einem Sonnentag.

Ärgerlich stapfte der Greis durch die Straßen, den Tabak in der einen, den Gehstock in der anderen Hand. Wozu so tun, als sei die Welt schön? Er sah nur kalt, grau, nass. An diesem Sonnentage viel zu hell. Zu anstrengend. Zu warm.
Und dann auch noch dieser Schwindler von einem Ladenbesitzer, der ihm seine Freundlichkeit verkaufen wollte.
Als er etwas Kaltes an seinem linken Fuß spürte, merkte er, dass er vor lauter Verärgerung eine Pfütze übersehen hatte, die von dem verregneten Vortag übrig geblieben war. Seine Wut wurde noch größer.

An der Bank am Kai angekommen, sah er missmutig, dass dort schon jemand saß. Auch das noch!
Seit Jahren setzte er sich auf diese Bank. Von dort aus konnte er auf der rechten Seite die Weite des Meeres erfassen und links die ankommenden Schiffe beobachten.
Nicht, dass dieser Platz schön wäre, er war genauso trostlos wie alles andere. Laute, stinkende Schiffe. Endloses Meer, auf das er emotionslos blickte. Was war an Endlosigkeit denn so schön? Was fanden die Menschen daran so bezaubernd? Bildete man sich ein, auch endlos zu sein, nur indem man auf salziges, bewegtes Wasser glotzte? Bescheuert und weltfremd.
Ein Ort wie jeder andere auf dieser kalten Welt.
Aber es gehörte nun mal zu seiner Routine, und die wollte er sich nicht nehmen lassen.

Mit finsterem Gesicht schritt er auf die Bank zu, stellte sich daneben und starrte auf die Person, die dort saß.
War es ein Junge oder ein Mädchen?
Im ersten Moment konnte er es nicht feststellen.
Sie war sehr dünn, ihre Finger hielten zitternd ein Buch fest, dessen Titel er nicht erkennen konnte. Ihre Haltung war gebückt, als hätte sie nicht genug Kraft oder sogar Schmerzen.
Im Grunde genommen war es ihm auch egal, wenn sie nur seinen Platz freigab.
Es verstrichen einige Sekunden, bis sie seinen Blick erwiderte. Ein Mädchen.
Augenringe, begleitet von eingefallenen Wangen, waren in ihrem Gesicht zu erkennen. Sie trug ein Kopftuch, das sie sorgfältig zusammengebunden hatte, damit der Wind ihren kahlen Kopf nicht preisgab.
Er blickte sie an, fast schon interessiert – was verwunderlich war – und fragte sich, was er nun sagen oder tun sollte. Einfach hinsetzen? Sagen: „Hau ab“?
Seine Laune war auf einem besonderen Tiefpunkt angekommen.
Musste er sich nun diese Mühe machen?

Er entschloss sich, sich einfach daneben zu setzen und zu warten, bis sie ging.
Nur ging sie nicht. Als er anfangen wollte, zu schimpfen und ihr zu sagen, dass es sein Platz sei und er auf dieser gottverdammten Welt nicht gestört werden wolle, fing sie an, zu sprechen.

– „Immer wenn ich die Schiffe auf der linken Seite erblicke, stelle ich mir vor, wie es ist, anzukommen. Ich finde es schön, zu sehen, wie sie an- und ablegen, Menschen ein- und ausgehen. Von nichts und niemandem zurückgehalten, so frei wie nur möglich.“

Eine Pause entstand. Er wollte gehen. Dieses Gerede konnte ja keiner ertragen. Aber er war zu starrköpfig, um seinen Platz aufzugeben.

– „Eigentlich hat es für mich keinen Sinn mehr, die Schönheit der Welt zu entdecken, denn ich bin krank. Sie nützt mir nichts, denn ich kann sie nicht auskosten, von all dem Kummer bedeckt. Und manchmal frage ich mich, ob es nicht Betrug ist, zu meinen, sie sei überhaupt da.
Aber ich versuche es. Die Sonne scheint. Die Wellen des Meeres schwingen in seiner Weite. Möwen kreisen umher. Die Luft füllt sich mit dem salzigen, einzigartigen Geruch der Meeresküste. Ich werde all dies bald nicht mehr erfassen können. Aber wenn ich es könnte, würde ich es genießen wollen. Oder es versuchen. Denn leben tut man sowieso.“

Dann starrte sie auf den Boden, bedeckt von all dem Leid, das sie erfasste und umhüllte, bemüht, die letzten Stunden ihres Lebens mit anderen Augen zu betrachten.

Er blickte missmutig fort. Da saß nun ein Mädchen, was seine Bank belagerte und auch noch anfing, ihm irgendetwas zu erzählen, nur weil kein anderer da war.

>> Die ganze Version gibt es bald als pdf., Büchlein – oder auf der nächsten Lesung!

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